Ryan.
Das ist er also. Mein erster Eintrag in mein Tagebuch. Mein eigener Name.
Es ist genau 11:45 Uhr.
Ich weiß nicht, warum ich dieses Tagebuch gekauft habe. Jetzt, wo ich darüber
nachdenke, weiß ich noch nicht einmal, warum ich überhaupt etwas
hineinschreibe. Ich habe noch nie ein Tagebuch geführt, noch nicht einmal, als
ich ein kleiner Junge war. Ich werde nicht über die Träume schreiben –
zumindest nichts Genaues. Ich werde meine Alpträume nicht zu Papier bringen.
NIEMALS!
Genug davon.
Falls es irgendjemanden interessiert: Letzten Montag bin ich 26 geworden. Ich
habe meinen Geburtstag nicht gefeiert. Was soll ich sonst noch sagen? Schreibe
ich dies in meiner schönsten Sonntagsschrift nur für mich selber oder für
jemand anderen? Vielleicht für Eden? Nein – für Eden nicht. Ich liebe sie –
zumindest glaube ich das, aber ich würde ihr niemals meine verworrenen Gedanken
anvertrauen. Schreibe ich dies nicht doch nur für mich? Nun ja, zumindest
teilweise, aber nur teilweise. Es ist auch für jemanden da draußen, der dies
vielleicht in 50 Jahren, wenn ich schon tot bin, lesen wird.
Oder vielleicht für die Augen eines Fremden in einer weit entfernten Zukunft,
einer anderen Epoche – in zehn‑ oder zwanzigtausend Jahren, wenn ich ein
Niemand der Geschichte bin, ein weiterer, unwesentlicher Bestandteil auf einer
archäologischen Liste.
Wer sind Sie überhaupt? Ich frage mich, wer Sie sind, fremder Leser.
Seltsam, ich hatte nicht vor, mich so gehen zu lassen. Ich fahnge VERDAMMT,
mein erster Fehler, und das bereits so früh. Was ich gerade sagen wollte … Ich
fange am besten mit heute an …
Ich habe in einem dieser alten Läden auf der Rackham Lane herumgestöbert, als
ich auf einmal dieses alte, dunkelgrüne, in Kunstleder eingebundene Buch sah.
Es hatte einen geprägten Einband in einem leicht verblichenen Goldton. Wie
nennt man diese Verzierung doch gleich? Punzarbeit, glaube ich. Wie auch immer:
Das Buch lag auf dem Regal und war bereits mit einer dicken Staubschicht
überzogen. Es roch sehr alt, so alt, wie aus einem vergangenem Jahrhundert. Die
Seiten im Buch waren so vergilbt wie alter Schnee, und sie schrien geradezu
danach, beschrieben zu werden. Ich erinnere mich, dass das Buch neben einer
dieser kleinen Glaskuppeln stand, in denen es schneit, wenn man sie schüttelt.
Oje – warum schreibe ich überhaupt über solche Kleinigkeiten? Wen interessiert
das schon? Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum ich das Buch überhaupt
gekauft habe. Aber ich denke, wir alle tun manchmal Sachen ohne irgendwelche
besonderen Motive zu haben, nicht wahr? Oder bilde ich mir das ein? Nein, ich
glaube nicht, dass ich so anders bin.
Zusammen mit dem Buch habe ich mir eine Schreibfeder gekauft, eine mit diesen
Spitzen, die man in ein Tintenfass stecken muss. Ein altes Schreibgerät für ein
altes Buch. Völlig untypisch, würde Eden jetzt sagen, wenn sie hier wäre. Louis
– er ist so etwas wie ein Freund – würde das Gleiche sagen. Das zeigt doch
wieder einmal, wie viel Freunde und Lebensgefährten über einen selber wissen,
oder nicht? Ich bin für meine Freunde so etwas wie ein lebenserfahrener Typ,
was immer zur Hölle das auch heißen mag. Aber wir alle haben unsere versteckten
Seiten, jeder einzelne von uns. Nein, der letzte Gedanke war nicht richtig …
Mir sind gerade ein ganzer Haufen übler Kerle eingefallen, die mir in den
letzten Jahren über den Weg gelaufen sind – und die hatten garantiert KEINE
versteckten Seiten mehr.
Der Fernseher steht in der Ecke des Zimmers und ist eingeschaltet. Gerade
erscheint einer dieser Idioten auf dem Bildschirm, einer dieser kommerziellen
Rockstars in seinen späten Zwanzigern. Er trägt eine Uhr, die ungefähr so viel
wert ist wie mein gesamtes Jahresgehalt. Ist das noch fair? Wenn Sie glauben,
dass das noch fair ist, dann sind Sie entweder verrückt oder steinreich. Okay,
einige dieser Interpreten sind ja noch ganz talentiert, aber dieser
David Crane, der Säger der Band „Arachnophobie“, ist ganz bestimmt keiner von
denen. Aber vielleicht sind Sie ja ein Fan und wollen mich jetzt mit einer
Gitarrensaite erdrosseln. (Es ist schon seltsam: Ich schreibe dies, als ob es
eines Tages jemand lesen würde. Vielleicht tun das ja alle Tahgeb
Tagebuchschreiber. Ich weiß es nicht. Ich fange ja gerade erst damit an.)
Nun, es ist spät und in der Glotze läuft nichts. Das Bett sieht sehr einladend
aus. Letzte Nacht habe ich davon geträumt, dass ich einen Mann ermordet habe …
Träume sind schon eine seltsame Sache.
Donnerstag, 29. März
Es ist 20:30 Uhr und alles ist okay. Die Arbeit ist zu Ende, für heute, und –
Nein, ich werde nicht über die Arbeit schreiben.
Ich sehe mich gerade in meiner Wohnung um. Es sieht unaufgeräumter aus als
sonst, wenn man bedenkt, dass Eden in ca. einer Stunde hier sein wird. Sie
versucht mich immer dazu zu bringen, aufzuräumen. Das Badezimmer sieht nicht
allzu schlimm aus – ich kann direkt hineinschauen von meinem Schreibtisch am
Fenster aus. Die Küchentür ist ebenfalls auf. Für meine Verhältnisse ist die
Küche ziemlich aufgeräumt – ist ja auch kein Wunder. Alles, was ich darin
benutze, ist die Mikrowelle. Man nennt mich auch den Mikrowellen‑Mann. Was mein
Wohn‑ und Schlafzimmer angeht: Es sieht so aus, als hätte eine Horde wilder
Studenten darin geschlafen. Flecken an den Wänden. Verstaubter Teppichboden.
Der Teppich ist dekoriert von dreckigen Socken, leeren Bierdosen und
Zigarettenkippen, die aus irgendwelchen Gründen nicht im Aschenbecher gelandet
sind.
Oh‑oh! Ich habe gerade einen Gummi unterm Bett liegen sehen. Da ist er also
hin. Ich bin gleich zurück … Dah bin Da bin ich wieder. Die Wohnung sieht jetzt wesentlich aufgeräumter
aus. Als ich den Gummi aufgehoben habe, konnte ich nicht mehr aufhören und habe
mir den Rest auch gleich vorgeknöpft. Eden wird bald hier sein und sie muss
doch den Eindruck haben, dass ich mich anstrenge. Hier sieht es immer noch aus
wie auf einer Müllhalde. Sie wird nicht sehr beeindruckt sein. Ich habe sowieso
nie verstanden, was sie an mir findet. Sie kommt eigentlich aus einer besseren
Umgebung. Sie sollten mal ihre Wohnung sehen. Plüsch über Plüsch, soweit das
Auge reicht. Allein von der Einrichtung weiß man, dass sie einen gut bezahlten
Job hat. Es hat irgendwas mit Marktanalysen und PR zu tun. Ich frage Sie sie
nie danach. Sie sagt mir immer, ich soll mir einen ordentlichen Job suchen. Ob
ihr noch nie jemand gesagt hat, dass es fast keine ordentlichen Jobs mehr gibt?
Billigen Fusel in Sparkys Bar zu verkaufen, ist auch nicht gerade mein
Traumjob. Jetzt ist’s raus – ich hab’s doch gesagt – ich bin Barkeeper. Und
Sparky ist mein Boss. Ein fetter, ungepflegter Typ. Einer dieser Kerle, die mit
diesen lächerlichen Westen rumlaufen. Wissen Sie, was ich meine? Na klar wissen
Sie’s.
Ich habe gerade vom Fenster aus auf die Straße gesehen. Das Fenster ist total
verdreckt. Als ob Sie sich das nicht denken könnten. Es regnet und die Straßen
sehen gelblich verschmiert aus von den Sodium‑Lampen, die als Beleuchtung
dienen. Man kann eine Menge Gestalten in Regenmänteln auf der Straße sehen,
alle auf dem Weg von irgendwo nach nirgendwo. Ich habe einmal gelesen, dass die
meisten Leute ihr Leben in stiller Depression verbringen. Das könnte wahr
sein.
Gott, ist die Wohnung leer, wenn Eden nicht da ist. Doch bald wird sie da sein,
wird den Raum mit ihrem Duft, mit ihrer Stimme, mit ihrer Aura füllen. Sie hat
versprochen, heute Nacht bei mir zu bleiben. Ich sehe schon ihren sanften,
blassen Körper auf dem Bett. Ihre schwarzen Haare auf dem Kopfkissen. Wenn sie
nackt ist, hat sie die Augen eines Kindes. Doch am nächsten Mö Morgen, wenn
sie sich anzieht, ist sie wieder jemand anderes. Manchmal glaube ich, Eden zu
lieben. Manchmal nicht. Doch wenn sie nicht da ist, vermisse ich sie. Ich
glaube aber, dass es vielen so geht.
Nun, für heute habe ich genug geschrieben. Bis morgen – oder was immer
Tagebuchautoren als Verabschiedung auch schreiben mögen.
Ich bin‘s wieder. Es ist nach Mitternacht. Eden ist nicht gekommen. Sie rief
an, hat sich entschuldigt, faselte irgendwas von wichtigen Terminen und einer
Menge Arbeit. Ich sagte ihr, dass es mir nichts ausmachen würde. Ich bin ein
guter Lügner, wenn ich will.
Zehn Minuten später kam Louis vorbei. Er kratzte sich an seinen frischen
Einstichstellen am Arm und fragte mich, ob ich irgendwelche Drogen wollte. Ich
habe das Zeug schon seit Jahren nicht mehr angerührt, aber er fragt mich immer
wieder danach.
Louis für Eden.
Kein sehr guter Tausch. Er fing irgendwann an, über unsichtbare Spinnen zu
labern und wischte sie sich von seinen Ärmeln. Ich musste ihn rausschmeißen.
Ich habe für eine Stunde ferngesehen. Es gab eine Sendung über Massenmörder.
Nein, ich habe keinen Galgenhumor. Seit ein paar Monaten treibt ein
Massenmörder sein Unwesen und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Die
Medien nennen ihn den „Dealer“, weil er diese Vorliebe für Spielkarten hat,
und –
Nein, heute Abend werde ich nichts über den Dealer schreiben.
Es regnet immer noch, und die Straßen sind wie ausgestorben. In jeder Ecke sehe
ich einen Schatten, der wie Eden aussieht.
Ich will nicht über die Träume schreiben.
Ich starre das Bett an. Es sieht nicht sehr einladend aus.
Freitag, 30. März
23:32 Uhr
Eden ist vor zehn Minuten gegangen. Sie kam völlig überraschend und meine
Wohnung sah so schlimm aus wie noch nie. Das ist das Problem mit
unangekündigten Besuchen. Hatten Sie auch schon einmal solche Probleme? Ich
denke schon. Sie rümpfte Ihre ihre Nase und sagte, dass es hier sehr ungesund
riechen würde. Ich hatte bis dahin nichts gerochen, was wahrscheinlich mehr
über mich aussagt als über sie. Außerdem bemerkte sie die ganzen Spinnen, die
seit ihrem letzten Besuch eingezogen waren. Und tatsächlich: Eine nicht
unerhebliche Anzahl an Spinnweben hatte sich in den Ecken des Zimmers
angesammelt. Aber fressen Spinnen nicht Fliegen und sonstiges Ungeziefer? Nun,
jedenfalls habe ich das als Ausrede benutzt. Sie hat dann nichts mehr gesagt.
Ich liebe Eden.
Sie hat mir erzählt, dass ihre Eltern sie eigentlich Eva taufen wollten, sich
aber dann für Eden entschieden haben – es war ungewöhnlicher. Das habe ich nie
gewusst. Ich mag diese kleinen Details.
Der Sex war okay, was soviel bedeutet wie dass er nicht okay war. Bei Eden und
mir war es bisher immer so, dass der Sex besser als nur okay war. Wie auch
immer. Wir sind dann eingeschlafen. Schlechte Entscheidung.
Als ich aufwachte, schlug mein Herz so laut wie eine Bongo‑Ton Trommel und
ich zitterte am ganzen Körper. Eden starrte mich mit weit aufgerissenen,
angstgeweiteten Augen an. Sie sagte, dass ich im Schlaf gesprochen und
geschrien habe. Ich hätte von Gott und dem Teufel geredet und von den sieben
Schläfern – und von der Frau, die ich ermordet habe.
Meine Güte! Kein Wunder, dass Eden Angst hatte. Wir haben uns dann gegenseitig
beruhigt, indem wir uns klarmachten, dass Träume nur Träume sind. Anschließend
haben wir dann Kaffee gekocht und uns unterhalten. Irgendwann hat Eden dann den
Fernseher angemacht. Noch eine schlechte Entscheidung. Es gab gerade eine neue
Meldung über den Dealer. Er hatte eine Frau in ihrer Wohnung ermordet, keine
zwei Blocks von meinem Appartement und ungefähr eine Stunde bevor Eden zu mir
kam. Eden sah mich an. In ihrem Blick war kein Zeichen von Anschuldigung. Kein
richtiges Zeichen von Angst. Einfach nur – dieser Blick. Ich wusste sofort,
dass sie an die Blackouts dachte, die ich habe, seit ich ein Kind bin. Sie
sagte jedoch kein Wort. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss und ein halb‑herziges
Lächeln und verschwand dann durch die Tür. Alles, was ich tun konnte, war die
verschlossene Tür anzustarren und dem Geräusch ihrer Schuhe nachzuhören,
während sie den Gang hinunterging.
Ich habe fast die ganze letzte Stunde aus dem Fenster geschaut. Der Regen hat
etwas nachgelassen. Ich musste daran denken, dass irgendwo da draußen der DieDae Dealer ist. Ich musste auch an die sieben Schläfer denken. Ich habe vor
langer Zeit etwas über sie gelesen. Ich war einmal ein begeisterter Leser,
bevor ich den Alkohol entdeckte und von der Uni flog. Vielleicht gehe ich
morgen einmal in die Zentralbibliothek.
Vielleicht auch nicht.
Samstag, 31. März
02:15 Uhr
Okay, es ist eigentlich nicht mehr Samstag, aber es kommt mir noch wie Samstag
vor. Alles klar?
Die Arbeit war die Hölle. Sparky hatte seinen schlechten Tag. Beides zusammen
passte hervorragend. Eine Zwölf‑Stunden‑Schicht, die irgendwann vor zwei Uhr
morgens zu Ende war. Ich habe die ganze Zeit nicht einen Tropfen getrunken.
Sparky war den ganzen Abend hinter mir her, hat mir die Ohren vollgejammert
über meine unmotivierte Einstellung und die Art, wie ich die Gläser waschen
würde und dieser ganze Scheißdreck. Ich habe aber alles in mich hineingefressen
und nichts gesagt. Ich brauche das Geld.
Ich habe Eden fünf‑ oder sechsmal von der Arbeit aus angerufen, immer wenn
Sparky gerade mal nicht da war, und habe Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter
hinterlassen. Ich glaube, ich brauche Eden mehr als dass ich sie liebe.
Ich muss die ganze Zeit an Religion denken.
Der Dealer hat heute Nacht niemanden umgebracht.
Ich bin nicht zur Bibliothek gegangen.
Sonntag, 1. April
11:20 Uhr
Letzte Nacht ist mir Gott erschienen und hat mir gesagt, dass ich Leute
umbringen soll. Er sah aus wie der Weihnachtsmann und hatte eine dunkle
Sonnenbrille auf. Cool, Mann!
Vielleicht war es so etwas wie ein Aprilscherz. Vielleicht hat Gott einen
schwarzen Sinn für Humor? Wissen Sie es?
Es war nur ein Traum, sage ich mir immer wieder. Nur ein Traum.
Ich schreibe dies in einer Bar. Nicht in Sparkys Bar. Ich trinke niemals in
Sparkys Bar, zumindest nicht auf der anderen Seite des Treh Tresens. Ich habe
bereits meinen ersten Whiskey hinter mir. Hoffentlich bin ich bald besoffen.
Die Erinnerungen an Eden haben sich gesammelt und mich erschlagen. Jetzt sitze
ich hier, mit einem Glas in der einen und der Feder in der anderen Hand und
lasse all die vergangenen Jahre Revue passieren. Ich sehe, wie Eden sich gegen
das Geländer am Haupteingang der Uni lehnt, in einem blauen Regenmantel und dem
gelben Schal. Ich hatte sie schon vorher bemerkt, aber dieses Mal hatte sie
mich angelächelt. Ihr Lächeln ist wie – wie der Garten Eden. Ich kann es nicht
besser ausdrücken. Dieses Lächeln begleitet mich schon seit Monaten, seit
Jahren auf ihrem Weg nach oben und meinem Weg nach unten.
Wenn ich nur nicht immer diese Blackouts hätte – Jetzt fange ich schon wieder
damit an. Ausreden. Selbstmitleid. Der Grund, dass ich ein Verlierer bin, ist
der, dass ich die Karten, die mir gegeben wurden, schlecht ausgespielt habe und
nicht, dass ich schlechte Karten bekommen hätte.
Es hat wieder angefangen, zu regnen. Ich sehe den Pfützen dabei zu, wie sie
größer werden. Auf meinem Tisch stehen eine Menge leerer Gläser. Ich weiß
nicht, wo die alle herkommen. Eden hat nicht auf meine Anrufe reagiert.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich das Mädchen an der Bar anstarre. Ihr
Gesicht ist von Make‑up überzogen, leuchtender Lippenstift auf ihren Lippen.
Sie sieht billig aus – und ich meine pro Stunde.
Manchmal sehnt man sich nach Geborgenheit. Auch wenn es bezahlte Geborgenheit
ist.
22:56 Uhr
Sie ist vor etwa einer Stunde gegangen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als mein
Kater nachgelassen hat. Ihr Name war Angel, sagte sie. Und für eine gewisse
Zeit war sie ein Engel für mich – ein Schutzengel. Sie war außerdem mein
Priester für die Beichte. Ich habe ihr alles gesagt. Dinge, die ich noch nicht
einmal wage, zu Papier zu bringen. Alles. Sie hat mich nicht verurteilt. Sie
hat mich nicht verdammt. Oh, sicher, ich weiß, warum – es war ihr SCHEISSEGAL!
Aber das macht nichts. Ich fühle mich – erlöst, so blöd sich das auch anhört.
Ich weiß nicht, was sie gefühlt hat – wenn überhaupt. Sie hatte auf ihrem
ganzen Körper verteilt blaue Flecken, einige sahen aus wie Blutergüsse. Ich
fragte sie, wo sie die her hatte. „So was kommt mit dem Beruf“, sagte sie. „Der
Kunde bekommt, wofür er bezahlt.“ Angel trug ein kleines Vermögen in Form einer
Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Ich erkannte die Uhr wieder. Es war die von
David Crane. Genau die Uhr, die er bei dieser Show anhatte, die im Fernsehen
lief. Als ich sie ansehen wollte, sagte sie mir nichts – Schweigepflicht nannte
sie es – aber ihr Gesichtsausdruck hat mir alles verraten. Die Uhr war von
Crane, dem Rock‑Idol und dem Liebling der Fernsehsendungen. Die blauen Flecken
waren auch von ihm.
Ich musste ihr mein letztes Geld geben. Es kümmerte sie nicht.
Ich möchte Angel wiedersehen.
Ich weiß, dass das nicht passieren wird.
23:12 Uhr
Eden hat gerade angerufen und gefragt, ob ich möchte, dass sie vorbeikommt.
Ich wollte sie nicht sehen.
Ich sagte ihr, sie könne gleich rüberkommen.
Montag, 2. April
23:23 Uhr
Als ich gestern mit Angel geschlafen habe, musste ich fast überhaupt nicht an
Eden denken. Ich liebe Angel nicht.
Als ich letzte Nacht mit Eden geschlafen habe, musste ich die ganze Zeit an
Angel denken. Ich liebe Eden.
Das Leben ist wie ein Song von Leonard Cohen. Wir reden verschlüsselt, weil
wir in Rätseln denken. Kaum war Eden durch die Tür gekommen, fragte sie mich
nach meinen Blackouts. Sint Sind sie schlimmer geworden? Ich habe einfach
irgendetwas vor mich hingemurmelt. Sie hat mich an die Hand genommen und mich
auf mein Bett gesetzt.
Sie lächelte mich an, und es war dieses typische Eden‑Lächeln, ein Lächeln wie
ich es vor Jahren schon einmal gesehen hatte, als wir noch im ersten Semester
waren. In diesem Moment waren mir zwei Dinge klar:
Ich würde nie jemanden so lieben können, wie ich Eden jetzt liebe, und ich bin
der letzte Mann, den Eden als Lebensgefährten verdient hat. Es ist nicht nur
so, dass sie eine Gewinnerin ist und ich ein Verlierer bin. Ich bin nicht
stolz. Damit kann ich nicht leben. Nein, es ist viel mehr als nur das – in
einem dieser seltenen Momente von Erleuchtung wurde mir klar: Ich bin der Tod.
Ich konnte nicht die Worte finden, um es ihr zu erklären. Ich versuche noch
immer, die Worte zu finden, um diese Erleuchtung zu erklären. Was soll ich
sagen? Dass ich der Tod bin, der Sensenmann in Person? Nein, so ein großes Tier
nicht. Vielleicht auf eine bestimmte Art. Vielleicht eher eine Art „selektiver
Tod“, was auch immer das heißen mag. Und ich bin außerdem ein toter Mann,
obwohl ich nicht genau weiß, was ich damit meine. Diese Erleuchtung kann man
einfach nicht in Worte fassen und dabei belassen wir’s. Nach einer Woche
verstand ich, was Eden mir sagen wollte. Sie redete wie ein Liebesengel.
Sie erzählte mir von Vertrauen. Nicht das Vertrauen wie das Vertrauen in die
Kirche oder in die Bibel, sondern menschliches Vertrauen, das Vertrauen
zwischen zwei Liebenden. Eden sagte, dass es ihr leid tut, dass sie mir nicht
vertraut hatte. Dass sie mich verdächtigt hatte, anderen Leuten wehgetan zu
haben. Ihr war zwar bewusst, dass ich diese Blackouts hatte – im Laufe der
Jahre hat sie sie schließlich oft genug mitbekommen – aber in all den Jahren
habe ich noch nie jemanden verletzt, während ich aus dieser Welt abgedriftet
war. Sie legte ihre Arme um mich, in der festen Überzeugung, ich könnte nie
jemandem weh tun.
Sie irrte sich, aber ich sagte nichts.
Irgendwie endete die ganze Sache dann im Bett. Das hört sich jetzt vielleicht
ein bisschen komisch an, aber es kam mir wirklich wie ein Film vor – einfach
von einer Szene zur nächsten, ohne Übergang.
Ein ganzer Strom furchtbarer Gedanken und Ängste raste mir durch den Kopf. SIE
SCHLÄFT MIT DEM TOD, dachte ich. Meine Liebe wird sie umbringen.
Aber was zur Hölle sollte ich denn tun?
Ihr sagen, dass ich Kopfschmerzen hätte?
Also dachte ich an Angel, während mein Körper mit Eden beschäftigt war. Angel
war aus irgendeinem Grunde immun. Der Tod konnte ihr nichts anhaben. Ich WEISS,
das hört sich verrückt an, aber …
Irgendwann, tief in der Nacht, schliefen wir dann ein. Und natürlich kamen die
Träume wieder.
Sie rüttelte mich frühmorgens wach und ihr Gesicht war so blass wie das Licht
der aufgehenden Sonne. Ich hätte wieder im Schlaf gerette geredet, sagte sie.
Ich hätte im Schlaf geschrien, so als würde ich in der Hölle schmoren. Sie
fragte mich, wer der „Erlöser“ sei. Der Name jagte mir einen Schauer über den
Rücken, auch wenn ich nicht genau wusste, warum.
Nachdem Eden gegangen war, lag ich einige Stunden lang auf dem Bett und zählte
die Risse in der Decke. Plötzlich spielte mein CD‑Spieler „SYMPATHY FOR THE
DEVIL“ ab und ich rannte so schnell ich nur konnte aus meiner Wohnung. Falls
Sie sich fragen sollten, warum ich mich so erschrocken habe: Ich besitze keine
einzige CD der Rolling Stones.
Bevor ich heute zur Arbeit gegangen bin, schaute ich bei der Bücherei vorbei.
Ich habe vier Bücher über Religion und Mythologie ausgeliehen. Danach bin ich
ziellos umhergelaufen, auf der Suche nach einer alten Kirche, einer leeren
Kirche. Fragen Sie bitte nicht, warum. Ein seltsames Bedürfnis? Wer weiß? Ich
fand mich irgendwann in einer schlimmen Gegend wieder, oberhalb der
italienischen Stufen. Enge, verwinkelte Gassen – kaum was vom Himmel zu sehen.
Ich ging an einem schwarz angestrichenen Fenster vorbei und betrat einen
kleinen Platz mit einem ausgetrockneten Brunnen in der Mitte. Dann sah ich sie
– die Kirche.
Es war eines dieser grauen, neugotischen Gebäude, mit verschmutzten, großen
Fenstern. Das Schild neben der Tür war vom Wind und vom Wetter ganz schön
mitgenommen. Der Name der Kirche war jedoch klar zu lesen: ST. SEPTIMUS.
Ich näherte mich der Eingangstür – und wäre auch beinahe hineingegangen – als
ich mich plötzlich umdrehte und wegging. Als ich dann endlich bei Sparkys Bar
angekommen war, brüllte er mich mal wieder an, weil ich eine Stunde zu spät
war. Ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen, dem stinkenden Schwein. Wenn ich
das nächste Mal auch nur eine Minute zu spät bin, wird er mich feuern. Ich
werde es verkraften.
Ich habe die Bücher noch nicht gelesen.
Ich habe ein wenig ferngesehen.
Der Erl Dealer hat heute niemanden umgebracht.
Ich habe Angst davor, schlafen zu gehen.
Dienstag, 3. April
09:27 Uhr
Ich habe eine Entscheidung getroft getroffen. Eine ENDGÜLTIGE Entscheidung.
Seit ich dieses Tagebuch angefangen habe, hat sich meine Lage immer weiter
verschlechtert. Vielleicht werden die Dinge nur schlimmer, wenn man sie
niederschreibt. Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, für ein paar Tage,
vielleicht eine Woche, nur ein paar kurze Notizen jeden Tag zu machen. Ich
werde mir nicht die Mühe machen, die Bücher aus der Bibliothek zu lesen.
Letzte Nacht kam es wieder.
23:36 Uhr
Der Dealer hat heute Abend jemanden umgebracht.
Mittwoch, 4. April
22:50 Uhr
Mein freier Tag.
Eden hat angerufen. Ich hab ihr gesagt, dass ich Schlaf nachzuholen habe und
dass sie besser nicht anruft. Sie ist ohne mich besser dran.
Louis kann kam irgendwann und hat an der Tür geklopft. Ich hab ihm gesagt, er
soll sich zum Teufel scheren. Ich bin ohne ihn besser dran.
Die Träume sind immer noch da.
Der Erlö Dealer hat heute niemanden getötet.
Donnerstag, 5. April
23:26 Uhr
Habe letzte Nacht nicht geschlafen.
Auf der Arbeit ist mir ein Glas kaputt gegangen, aber Sparky war nicht da.
Eden hat angerufen. Ich sagte ihr, ich hätte viel zu tun.
Keine Morde.
Werde ich heute Nacht wieder wachbleiben.
Freitag, 6. April 23 0:15 Uhr
Bin wachgeblieben.
Habe noch kein einziges Buch gelesen. Id Eden hat angerufen. Ich sagte ihr, sie soll mich für ein paar Tage anr
nicht anrufen.
Keine Toten.
Ich muss schlafen.
Irgendwas passiert mit der EltEletz Elektrizität.
Der Tod hat an meine Dü Tür geklopft, aber ich habe ihn nicht hehr
hereingelassen.
Bin doch nicht verrückt.
Samstag, 7. April
Habe bis nachmittags geschlafen. Die Träume werden schlimmer, kommen näher.
Nichts Neues vom Dealer.
War bei der St.‑Septimus‑Kirche. Bin nicht reingegangen.
Eden hat nicht gerufen angerufen.
Die Lichter gehen von alleine an und aus.
Habe zu Angel gebetet, bevor ich ins Bett gegangen bin. Sie hat mich mit einem
Ave Maria in den Schlaf gesungen.
Erlöse uns von dem Bösen.
AN, AUS. AN, AUS.
Sonntag, 8. April
Träume sind immer noch grauenhaft.
Nicht sicher, ab ob Ih ich wach bin.
Habe zwei Stunden lang den Lichtschalter beobachtet. Er hat kein Wort gesagt.
Überall sind SPINNEN.
Der Erlöser hat heute eine FRAU getötet.
Sonntag 8. Ap
Montag, 9. April
Die Uhr läuft immer weiter. Sie sagt mir nicht, wie wie spät es ist.
Der Weihnachtsmann hat mir eine Pistole gegeben.
Sende die Kinder des Krieges aus.
Ich bin letzte Nacht gestorben.
Dienstag, 10. April
Heute war kein guter Tag.
Mittwoch, 11. April
Mein Name ist Ryan und ich glaube, ich werde verrückt.
Ich sitzt sitze hier an meinem Tisch in meiner Wohnung und schreibe langsam.
Und vorsichtig. Gestern unternahm ich einen Schritt, der mich entweder total
verrückt gemacht hat oder meine Rettung war. Ich bin mir noch nicht schisichr sicher. Gestern habe ich akzeptiert, dass das Unmögliche, das
Unfassbare, wahr sein kannt kann. Dass der Weihnachtsmann keine Einbildung
ist.
Nein. Das ist es nicht. Konzentriere dich, Ryan.
Konzentriere dich.
Ich habe die Bücher gelesen. Ich glaube, es ist Abend. Ja – es ist dunkel
draußen.
Mein Gott, in meiner ganzen Wohnung sind Spinnen – überall. Im Wohnzimmer, in
der Küche, im Badezimmer, überall. Überall. Netze, die sich im Wind bewegen …
Kann mich nicht qo konzentrieren.
Ich glaube, ich habe seit einer Woche nichts mehr gegessen. Die Wohnung stinkt.
Ich stinke. Dieses ganze Zeug, was ich in der letzten Woche überall
hingeschrieben habe – Ich muss total übergeschnappt gewesen sein. Ich habe
diese vier Wände schon seit einer Woche nicht mehr verlassen – glaube ich
zumindest. Ich weiß es nicht genau.
Ich werde Ihnen die Wahrheit erzählen, wenn ich meine Gedanken für eine Minute
ruhig halten kann. Sie sind wie kleine Jungs, die auf einem Spielplatz spielen.
Ich habe Ihnen noch nicht von meinen Gem Geheimnissen erzählt, zum
zumindest nicht, seit ich dieses Tagebuch besitze. Wenn Sie dies lesen, dann
wissen Sie wol wohl auch, was ich mit dem Einband gemacht habe. Ich habe
einen Titel in den Kunstlederband geschnitten. Ich habe lange dafür gebraucht,
weil ich die Wörter mit meinen Fni Fingernägeln ausgeritzt habe. Meine Finger
haben ziemlich geblutet, daher die Flecken Blut und Haut. Ich habe den Titel
TAGEBUCH EINES VERRÜCKTEN MANNES eingeritzt. Vor einer Stunde musste ich daran
denken, was sein könnte, wenn ich doch nicht verrückt bin. Also habe ich wieder
Gebrauch von meinen Fingernägeln gemacht und das VERRÜCKT eingeklammert und ein
Fragezeichen dahinter geritzt. Meine Nägel sind ziemlich am Ende. Das ist also
die Geschichte, die hinter dem Titel steht.
Jetzt erzähle ich Ihnen die Geschichte der Geschichte.
Gott hat nicht zu mir gesprochen. Der Weihnachtsmann, BLUT auf seinem Bart.
Nein – ich werde wieder verükt verrückt. Ich muss raus aus dieser Wohnung.
Essen. Ich werde spätt später weiterschreiben. Muss raus. Zur Kirche.
Kirche.
0:15 Uhr
Für Im Moment bin ich wieder normal. So normal ich noch sein kann. Diese
Anflüge von Normalität dauern meistens nicht sehr lange. Ich beeile mich
deshalb mit dem Schreiben, solange ich noch fast alle Tassen im Schrank habe.
Ich bin vor drei oder vier Stunden rausgegangen. Ich muss etwas gegessen haben
– mein Bauch fühlt sich voll an. Ich bin zur Kirche gegangen – zu St. Septimus.
Als ich die italienischen Stufen hinaufging, hörte ich auf einmal Schritte
hinter mir. Zuerst habe ich sie nicht bemerkt, es gab ja keinen Grund. Als ich
dann aber über eine Stufe stolperte und stehenblieb, da hörten die Schritte auf
einmal auf. Ich drehte mich um und spähte in die Dunkelheit. Ich konnte nichts
sehen. Wer immer sich auch dort aufhielt, die Dunkelheit verbarg ihn. Ich ging
weiter. Die Schritte fingen wieder an. Ich hielt an. Die Schritte hörten auf.
Ich setzte meinen Weg fort. Die Schritte folgten mir. Genau wie in einem Film.
Einbildung, sagen Sie? Die wirren Illusionen eines Verrückten? Das glaube ich
nicht. Sie waren nicht da. Sie wissen noch nicht, was dann passiert ist.
Die Eingangstür von St. Septimus war offen. Weit geöffnet. Zuerst dachte ich,
da wäre so etwas wie eine Mitternachtsmesse, aber dann sah ich, dass die
Lichter nicht an waren. Als ich hineinging, bemerkte ich die unglaubliche
Anzahl von brennenden Kerzen, die alle auf dem Altar, auf den Kerzenständern
und an den Füßen der Statuen standen. Keine Menschenseele in Sicht und überall
brennende Kerzen. Welche Kirche lässt die Eingangstür sperrangelweit offen
stehen, mitten in der Nacht, ohne Licht und nur mit brennenden Kerzen? Ergibt
das für Sie einen Sinn?
Ich weiß, dass ich in diesem Moment nicht verrückt war. Ich bin mir ABSOLUT
SICHER.
Wenn man sich in einer Kirche befindet, bewegt man sich leise, oder? Ich bin
sehr leise das Mittelschiff hinuntergegangen, immer die Augen auf den Altar
gerichtet. Plötzlich hörte ich gedämpfte Schritte hinter mir.
Ich drehte mich blitzschnell um und im selben Augenblick erloschen alle Kerzen
im hinteren Teil der Kirche. Die beiden Kerzenständer waren mehr als zehn Meter
auseinander, jeder auf einer Seite der Eingangstür. Und die Kerzen sind alle
gleichzeitig ausgegangen. Wer immer sich in der Dunkelheit aufhielt – er hatte
alle Kerzen zur gleichen Zeit gelöscht.
Dann dachte ich, dass sich dort vielleicht zwei Personen aufhalten würden. Aber
zwei Personen, die sich in absolutem Einklang bewegen und zur gleichen Zeit
ungefähr zwanzig Kerzen auf einmal löschen können und all das in einer
Mikrosekunde, das war ungefähr genauso ein verrückter Einfall wie der Gedanke
an einen Mann, der eine Spannweite von zehn Metern mit beiden Armen erreichte.
Ich stand einfach nur neben den Stufen zum Altar und wartete darauf, dass sich
jemand bewegte, etwas sagte oder einfach nur atmete …
Nichts.
Die Warterei wurde zu viel für meine zerrütteten Nerven.
„Ist da jemand?“, rief ich in die Dunkelheit. Warten ließ die Antwort auf sich,
wie ein Poet jetzt vielleicht sagen würde. Aber ich hatte dieses starke Gefühl,
von einer – wie soll ich sagen – BÖSEN MACHT. Ja, so etwas wie eine böse Macht
hielt sich in der Dunkelheit der Kirche auf.
Ich gebe zu, dass ich Angst hatte. Vielleicht glauben Sie, dass Sie keine Angst
gehabt hätten. Aber Sie waren ja auch nicht dabei. Ich zögerte, unsicher, ob
ich angreifen oder mich zurückziehen sollte.
Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es wäre mir schon vorher
aufgefallen, wenn mich diese Woche in meiner Wohnung nicht so geschwächt
hätte.
Es gab dutzende von Kerzen im restlichen Bereich der Kirche. Mehr als genug, um
auch den Bereich um den Eingang zu erhellen. Wie es immer in diesen billigen
Groschenromanen geschrieben steht: Eine blasphemische, trügerische Stille lag
in der verdunkelten Luft. Sagen wir einfach, dass der hintere Teil der Kirche
so schwarz war wie die Sünde selbst.
Zu diesem Zeitpunkt schmeckte ich zum ersten Mal Blut auf meiner Zunge.
Durch Angst kannst du zum Helden werden oder zum Feigling. Dieser Anflug von
Schrecken trieb mich dazu, anzugreifen. Wenn ich nur eine Sekunde gezögert
hätte, wäre ich wahrscheinlich in die andere Richtung gelaufen.
Ich rannte direkt auf die Dunkelheit zu und schrie mir die Lunge aus dem Hals.
Ich weiß nicht mehr, was ich geschrien habe. Irgendwelche Flüche, nehme ich an.
Die Dunkelheit teilte sich in dem Moment, in dem ich in sie hineinrannte. Ich
erhaschte einen Blick auf eine Gestalt zu meiner Rechten, die den Gang
hinunterfloh. Und dann sah sah ich einen Mann, der durch den Torbogen des
Eingangs ins Freie rannte. Als ich draußen ankam, war er bereits verschwunden.
Aber dieses Bild hatte sich in meinen Verstand gebrannt. Als ich wieder zu Atem
gekommen war, konzentrierte ich mich auf dieses Bild und den kupferartigen
Geruch von Blut, der mit dem Bild in meinem Kopf hängen geblieben war. Vor
meinem geistigen Auge konnte ich sein Gesicht genau sehen.
Ja, mein Verstand funktioniert völlig normal. Ich kann seine Klarheit spüren,
wenn ich dies hier schreibe. Ich hoffe nur, dass meine Normalität lange genug
anhält, damit ich Ihnen alles erzählen kann, was ich weiß.
Ich habe sein Gesicht gesehen, und das Blut gerochen. Aber es gab noch ein
weiteres Detail. Sein Anzug war, sofern ich das erkennen konnte, dunkel und
unauffällig, aber etwas ragte aus seiner übergroßen Brusttasche heraus. Eine
Spielkarte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es war die Herz‑Dame.
Die riesige Brusttasche sah so aus, als würde sie jeden Moment platzen. In
diesem Moment habe ich das jedoch nicht richtig zur Kenntnis genommen.
Erst als ich wieder zuhause war und den Fernseher eingeschaltet habe.
Nach etwa zehn Minuten kamen die Nachrichten. Der erste Beitrag war über den
Dealer. Er hatte ein weiteres Opfer gefunden. Eine Frau mittleren Alters namens
Lisa Carrack, Mutter von drei Kindern. Er hatte ihr das Herz herausgeschnitten
und ein anderes, das Herz seines vorherigen Opfers, zusammen mit einer
Spielkarte in ihren Brustkorb gestopft. Die Pik‑Dame. Die Frau war eine
Schwarze. Schwarz ist wohl auch der Sinn für Humor des Dealers. Ort des Mordes
war die Gegend um die italienischen Stufen.
In diesem Augenblick ist mir die große Brusttasche wieder eingefallen. Groß
genug für jede Art von Herz. Und was die Karte betrifft:
Die Herz‑Dame war für sein nächstes Opfer. Vielleicht für eine Frau, die Liebe
verkauft? Angel?
Nein – es könnte jede beliebige Nutte sein.
Ich wartete über eine Stunde bis ein weiterer Bericht gesendet wurde. Ein
weiteres Opfer wurde im Ostteil der Stadt gefunden: Julia Rivelo. Ihr Herz war
gegen das von Lisa Carrack ausgetauscht und auch in ihrem Körper steckte eine
Spielkarte. Die Herz‑Dame, die Visitenkarte des Dealers.
Zusammen mit dem Gefühl von Übelkeit – und Sympathie – überkam mich ein starkes
Gefühl der Erleichterung. Erleichterung darüber, dass ich nicht der Dealer bin.
Als meine Gedanken immer verrückter wurden und die Blackouts immer häufiger
auftraten, da befürchtete ich schon, selbst der Dealer zu sein. Eine Art
Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Hatten Sie nicht auch schon daran gedacht? Zumindest für einen Moment? Aber ich
hatte noch einen Grund, aufzuatmen. Die Stimmen in meinen Träumen sind
bestätigt worden. Sie hatten mir auch schon genau erklärt, was ich zu tun
habe.
Ich soll dieses Schwein umbringen.
Oh ja, ich hatte ihn vorher schon gesehen, in meinen Träumen, schreckliche
Träume. Manchmal habe ich ihn getötet. Manchmal hat er mich getötet. Doch jedes
Mal, wenn wir uns in den Träumen begegnet sind, war der Tod allgegenwärtig.
Nun, Dealer, ich habe neue Karten für dich. Die Tarot‑Karten. Die höchste Karte
ist der Tod. Und Tod ist außerdem der Name des Spiels.
Es gibt Zufälle und es gibt Zufälle, und die Ereignisse von heute Abend waren
zu ungewöhnlich, um unter die Sparte „Seltsame Zufälle“ zu fallen. Irgendetwas
hat mich zu St. Septimus geführt.
Ich weiß, dass psychotische Mörder Stimmen hören, Befehle aus ihren Träumen,
die ihnen auftragen, für Gott oder den Teufel zu töten. Das ist genau das, was
mich die letzten Tage so erschüttert hat.
Aber die Sache ist anders. Das ist so, als ob man mir sagt, dass ich Napoleon
töten soll.
O Gott, bin ich müde. Ich muss meine Kräfte wiederfinden.
Heute Nacht werde ich keine Angst davor haben, einzuschlafen.
Morgen werde ich die Jagd beginnen. Nor Nur wo? St. Septimus?
Ja, St. Septimus.
Donnerstag, 12. April
23:05 Uhr
Es ist kurz nach elf und mir geht es gar nicht gut.
Ich habe gerade das gelesen, was ich letzte Nacht geschrieben habe. Welch
selbstsichere Worte! Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, obwohl ich immer
noch mit beiden Beinen in der Realität stehe.
Ich bin zu St. Septimus gegangen, aber ich bin bei jedem Schritt von einer Zahl
verfolgt worden. Die Zahl Sieben. Nein, ich bin nicht abergläubisch. Es ist
etwas aus einem meiner Träume. Aus dem Todestraum. Ich glaube, man befiehlt
mir, mehr Menschen zu töten – zu exekutieren – als nur den Dealer.
Die Bücher aus der Bibliothek – nachdem ich sie endlich gelesen habe – haben
einen Teil in meinem Unterbewusstsein berührt, verschwommene Bilder eines
vergangenen Traumes. Ich sah die sieben Todsünden in menschlicher Form und alle
tragen sie Masken. Was die sieben Schläfer von Ephesus angeht, die legendären
christlichen Märtyrer, welche in tiefem Schlaf auf ihre Auferstehung warten –
da bin ich mir nicht so sicher. Das könnte etwas bedeuten. Könnte aber auch
nichts bedeuten. Vielleicht kommt es nur auf die Zahl Sieben an. Es ist
immerhin eine dieser heiligen Zahlen …
Sieben Tage in der Woche. Sieben Meere. Die sieben Todsünden. Sieben Bräute für
sieben Brüder?
Ha Ha – sehr lustig!
St. Septimus war am Tage genauso verlassen wie in der Nacht. Ich saß für
ungefähr eine Stunde in der ersten Reihe, danach habe ich die Kirche durchsucht
– ohne irgendwas zu finden. Ich versuchte, die Tür zur Sakristei zu öffnen, auf
der Suche nach dem Priester, aber sie war verschlossen. Ich fing allmählich an,
mir Gedanken über den Priester von St. Septimus zu machen. Warum ließ er seine
Kirche unbeaufsichtigt?
Ich fühlte mich, als würde ich in dieser Kirche beobachtet. Ich weiß, dass dies
eines der ältesten Gefühle in der Geschichte der Menschheit ist, meistens auch
unbegründet. Aber ich hatte dieses unbeschreiblich starke Gefühl, von
irgendjemanden oder irgendetwas beobachtet zu werden. Um genau zu sein: Ich
hatte das Gefühl, dass sogar die Statuen mich anschauten.
Es waren ziemlich seltsame Statuen … Ein blinder Erzengel mit gebrochenen
Flügeln. Ein Heiliger mit einem Heiligenschein über seinem Kopf. Ein Wesen mit
zwei Köpfen.
Erst nach längerer Zeit erkannte ich die Motive in den verdreckten Fenstern und
ich brauchte noch eine weitere ganze Weile, um die Bedeutung hinter jedem der
Bilder zu verstehen. Alle hatten ein zentrales Thema: Himmel und Hölle.
Natürlich, denken Sie jetzt vielleicht. Ich befand mich ja auch in einer
Kirche. Das Ungewöhnliche war nur, dass der Himmel im unteren Teil des Bildes
war und die Hölle im oberen. Die Hölle auf den Himmel hinab. Die Dämonen
herrschten über die Heiligen.
Gott und die Kirche von St. Septimus verstehen sich anscheinend nicht besonders
gut. Aber all diese grotesken Eindrücke verschafften mir keinen Hinweis auf den
Dealer.
Ich setzte mich neben den Altar, kurz davor, frustriert aufzugeben, weil ich
bis dahin nicht EINEN EINZIGEN Hinweis gefunden hatte. Auf einmal fiel es mir
ein. Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz. Der Hinweis steckte im Namen:
St. Septimus.
Septimus: Sieben.
Wieder diese Zahl.
Den Dealer töten – dafür würde ich sogar die Rolle von Gott übernehmen. Ob
richtig oder falsch, ich würde es tun, wenn dadurch weitere Opfer gerettet
würden. Aber wenn ich hierfür noch sechs weitere Menschen töten sollte …
sieben Morde …
Nein, auf keinen Fall. Das würde mich ebenfalls zum Massenmörder machen.
Ich werde es nicht tun.
Niemals.
Mir ist gerade was eingefallen – morgen ist Freitag, der 13. Ich bin nicht
abergläubisch, aber …
Meine Nachttischlampe ist soeben von alleine ausgegangen.
Das Bett ist wie eine Fallgrube, die nur darauf wartet, dass ich hineinstürze.
Auf dem Kissen sitzt eine Spinne.
Freitag, 13. April
15:15 Uhr
Heute Morgen habe ich den Verstand verloren. Ich hatte große Mühe, ihn
wiederzufinden. Es ist nähergekommen – das Wesen aus dem Traum, die Gestalt,
von der ich dachte, sie wäre der Weihnachtsmann, als meine Sinne am Boden
lagen.
Er trägt einen roten Umhang. Einen roten Umhang mit Kapuze. Und da hören die
Gemeinsamkeiten mit dem guten, alten Weihnachtsmann auch schon auf. Ich glaube
nicht, dass mir dieser Typ irgendwelche Geschenke bringt.
Eine unheimliche Aura umgibt ihn. Unmenschlich. Gefühllos. Vielleicht ist er
letzten Endes doch der Teufel. Seine Stimme war fest, so wie die einer
Warnglocke auf einer Insel vor der Küste. Er sagte, er würde mich heute Abend
besuchen. Ich verstand noch zwei weitere Worte:
Arachne … Erlöser …
Ich schaue zu den Spinnen in meinem Zimmer, die Ansammlungen von Spinnweben.
Ich glaube, ich weiß, wofür Arachne steht.
Was die Identität des Boten Erlösers angeht, so glaube ich, dass ich nur in
den Spiegel schauen muss, um dieses Rätsel zu lösen.
Die Glühbirne geht an und aus. Wenn das so weitergeht, wird sie die
Geschwindigkeit eines Stroboskops erreicht haben, bevor es Mitternacht ist. Die
Mikrowelle ist gerade von alleine angegangen. Ich glaube, ich weiß, wer oder
was hinter diesen elektronischen Anomalitäten steckt:
Ich.
Der Mikrowellen‑Mann.
Ich verändere mich. Ich kann es fühlen. Aber ich weiß nicht genau, ob ich
verrückt werde oder mich von einer Raupe in einen Schmetterling verwandle. Zum
Teufel – ich habe auf den letzten Seiten fast kein einziges Wort
durchgestrichen! Das bedeutet doch bestimmt, dass ich noch nicht total
ausgeflippt bin! Während ich darüber nachdenke, glaube ich jedoch, dass es rein
gar nichts bedeutet.
Ich habe Angst.
Ich wachse, verändere mich in – in Gott weiß was. Oder ich werde ein Fall für
die Klapsmühle. Wie auch immer – ich habe Angst.
Eine Spinne hat ihr Netz über meinem Kopfkissen gesponnen.
23:50 Uhr
Ich schaue immer noch das Netz über meinem Kissen an. Ich glaube, ich fange an,
das Muster des Netzes zu verstehen.
Wir reden verschlüsselt, weil wir in Rätseln denken.
Arachne … in der griechischen Mythologie verwandelt sich eine Jungfrau in eine
Spinne. Arachne, die Schöpferin der Netze.
Netze.
Träume.
Die Sieben.
In meinem Kopf dreht sich alles.
Vor kurzem habe ich einen alten Liedtext gelesen, den Text eines Evangeliums,
das Evangelium der Wahrheit. Da gibt es einen Abschnitt, der unter dem Namen
„Alptraum‑Parabel“ bekannt ist. Ich habe ein paar beunruhigende Hinweise
gefunden.
Warten Sie – ich werde Ihnen einen Teil aufschreiben:
„… Sie lebten so, als wären sie in Schlaf versunken und würden schreckliche
Träume haben. Entweder gibt es einen Ort, an den sie entfliehen können … oder
sie verteilen Schläge, empfangen Schläge oder sie fallen von hohen Stellen …
Manchmal scheint es, als würden sie ermordet werden, obwohl sie keiner
verfolgt, oder sie selbst töten ihre Nächsten, die sie mit ihrem Blut
beschmutzt haben …“
Der Autor dieses Textes sah das menschliche Leben wohl als eine Art Schlaf der
Ignoranz. Und Ignoranz ist die Wurzel des Bösen.
Also sollte ich auf meine Träume hören?
O Gott, ich fühle, wie die Panik mich überkommt … Ich werde verrückt – oder
übermenschlich normal. Bitte, Gott, hilf mir.
Schlafen.
Der Schlaf zieht mich hinab.
Angel – Eden – hilf mir. Lass die Uhr nicht schlagen!
Ich entsage allen Dingen. Ich verbrenne meine Bücher.
Eden, ich falle.
Schlafen.
Traum
Netz
Samstag, 14. April
Mein Name ist Ryan.
Ich bin der Erlöser.
Richter und Henker in einer Person.
Der Jäger der Sieben.
Es ist, als ob man Napoleon tötet.
Sachen zur Erinnerung
Müll am Mittwoch rausstellen
Tür‑Zugangscode: 5106
Edens Geburtstag: 17. Feb.
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